FRIEDLICHE REVOLUTION 1989

Rückblick auf die historischen Ereignisse im Herbst '89

Polizeiketten auf dem Nikolaikirchhof

Am 11. September 1989 hatten Bereitschaftspolizei und Staatssicherheit den Nikolaikirchhof in Leipzig nahezu hermetisch abgeriegelt. Die Besucher des Gottesdienstes standen massiven Absperrketten gegenüber. An jenem Tag kam es zu 104 Verhaftungen. Die DDR-Staatsmacht wollte ein Exempel statuieren, ging mit äußerster Härte vor. Einige Personen mussten bis zur Amnestie Ende Oktober in Haft bleiben. Sie waren im Schnellverfahren per Strafbefehl ohne mündliche Verhandlung zu Haftstrafen zwischen vier und sechs Monaten verurteilt worden. Der Vorwurf: Zusammenrottung.

Die Verhaftungen hatten sich natürlich herumgesprochen. Auf Betreiben der Initiativgruppe Leben gründete sich eine Koordinierungsgruppe "Leipziger Fürbittandachten für die Inhaftierten". So fand am 14. September erstmals eine Fürbittandacht in der Markusgemeinde statt. Aber auch Reformierte Kirche, Michaelis- sowie Lukaskirche schlossen sich sofort an. Jene Form der Andachten etablierte sich in vielen Städten der Republik. Es wurden aber auch zahlreiche Protestbriefe an staatliche Behörden geschrieben, die Freilassung der Bürgerrechtler gefordert. "Jener Protest gegen die Leipziger Verhaftungen hat nicht unwesentlich zur gesellschaftlichen Mobilisierung im September 1989 beigetragen", schätzt Tobias Hollitzer, Leiter des Museums in der "Runden Ecke", ein.

In Leipzig wurde mittlerweile auch öffentlich gegen den Staat opponiert. Die zum Nikolaikirchhof gelegenen Fenster der Kirche waren ständig mit frischen Blumen und Kerzen geschmückt, ein kleines Plakat forderte die Freilassung der Gefangenen. "Das brutale Vorgehen der Staatsmacht, das die Menschen einschüchtern sollte, bewirkte genau das Gegenteil. Viele erlangten ihre Sprache zurück und verlangten grundsätzliche Reformen", so Hollitzer.

Der Polizeieinsatz der Vorwoche hielt viele Menschen nicht davon ab, am 18. September erneut zum Montagsgebet zu kommen. Wieder hatte die Polizei dichte Sperrketten um das Gotteshaus gezogen, in dem sich etwa 1200 Menschen versammelten. Pfarrer Führer informierte die Gottesdienstbesucher über das Geschehen am vorherigen Montag und verlas auch die Namen der Inhaftierten. Laut Stasi-Protokoll erklärte er, "daß die zum Einsatz gekommenen Volkspolizisten nur Befehlsausführende seien und zum Teil gegen ihren Willen handeln müßten". Anschließend gestaltete der Friedenskreis Lindenau das Gebet mit biblischen Texten rund um das Thema "Mauer". Danach versammelten sich erneut Menschen auf dem Nikolaikirchhof, wo Handzettel mit Informationen über den Polizeieinsatz vom 11. September verteilt wurden. Wieder forderten die Ordnungskräfte die Menschen per Lautsprecher auf, den Platz zu verlassen. Gegen 18.40 Uhr erfolgte dann die Räumung. An jenem Tag kam es zu mehr als 30 Festnahmen.

SED-Generalsekretär Erich Honecker, der nach längerer Krankheit im Zentralkomitee wieder die Führung übernommen hatte, wies die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen am 22. September in einem Fernschreiben an, "daß diese feindlichen Aktionen im Kern erstickt werden müssen, daß keine Massenbasis dafür" zugelassen werden dürfe. Außerdem solle dafür gesorgt werden, dass "die Organisatoren der konterrevolutionären Tätigkeit isoliert werden". An der nächsten Montagsdemonstration am 25. September beteiligten sich bereits mehr als 5000 Menschen, sie forderten Reformen sowie die Zulassung des Neuen Forums, welches am gleichen Tag vom Ministerium des Inneren verboten worden war.

Von Mathias Orbeck,
erschienen in der Leipziger Volkszeitung am 18. September 2009

Erste große Demo auf dem Ring

Am 25. September 1989 fand die erste große Montagsdemo statt, bei der die Menschen über den Leipziger Ring zogen. Die Nikolaikirche war zum Friedensgebet um 17 Uhr bis auf den letzten Platz besetzt. Das Gotteshaus musste an jenem Tag wegen Überfüllung geschlossen werden. Draußen marschierten erneut Bereitschaftspolizei und Staatssicherheit auf, die den Nikolaikirchhof wie an den Montagen zuvor hermetisch abriegelten. Trotz der Präsenz versammelten sich 1000 Menschen vor der Kirche.

Drinnen gab Nikolaikirchenpfarrer Christian Führer bekannt, dass "zur Entlastung" künftig jeweils sonnabends Friedensgebete in weiteren Leipziger Kirchen stattfinden würden. Anschließend hielt Pfarrer Christoph Wonneberger vor etwa 2000 Zuhörern eine Andacht über das Thema Gewalt. "Wer Gewalt übt, mit Gewalt droht oder sie anwendet, wird selbst ein Opfer der Gewalt", predigte er. Und: "Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen." Das sei keine grundsätzliche Infragestellung staatlicher Gewalt. Aber: Staatliche Gewalt müsse effektiv kontrolliert werden, gerichtlich, parlamentarisch … "Unser Land ist nicht so reich, daß es sich einen so gigantischen Sicherheitsapparat leisten kann …" Die Grundaussage Wonnebergers lautete: "Wir können auf Gewalt verzichten."

Frank Richter, ein Stahlbauschlosser, berichtete außerdem über real erlebte Gewalt bei Demonstrationen in Leipzig, beispielsweise in Bezug auf die Fälschung der Kommunalwahlen vom Mai 1989. Die Sängerin Christa Mihm stimmte "We shall overcome" an, das die Gottesdienstbesucher mitsangen.

1500 Polizeikräfte bereit. Die Stasi wollte ursprünglich sogar Wasserwerfer einsetzen. Doch dazu kam es nicht. Minister Erich Mielke und Leipzigs Stasi-Generalleutnant Manfred Hummitzsch verständigten sich über die Taktik am Telefon. Die Polizei sollte die Situation nicht anheizen, sich nicht provozieren lassen. Später erfolge der Befehl, bei einer Demo "den aktiven Kern festnehmen".

Zur Demonstration kam es dann nach dem Gebet. Die Sicherheitskräfte hatten den Zugang zum Markt abgeriegelt, die Polizeikette in der Grimmaischen Straße wurde aber aufgelöst. Deshalb zog die Menge zunächst über die Ritterstraße zum Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz). Mehr als 5000 Menschen liefen über den Georgiring, schließlich am Hauptbahnhof vorbei bis zur Blechbüchse, dem damaligen "Konsument"-Kaufhaus. "Freiheit" sowie "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" forderten einige in Sprechchören. Auch die "Internationale" erklang. Die Menschen forderten die Zulassung des "Neuen Forums". Das war an jenem Tag vom Ministerium des Inneren verboten und als staatsfeindlich eingestuft worden.

Die Polizei griff zunächst nicht ein. Am "Blauen Wunder" kehrten die Demonstranten schließlich um. "Offenbar befürchteten die Demonstranten, dass es an der Runden Ecke zu einer Eskalation der Situation kommen könnte", so Tobias Hollitzer, Leiter der Gedenkstätte Museum in der "Runden Ecke". Erst als etwa 1000 Leute auf den Hauptbahnhof ziehen wollten, reagierte die Polizei. Sechs Personen wurden an diesem Abend festgenommen.

Ohne massiven Einsatz polizeilicher Mittel, schlussfolgerte Generalleutnant Hummitzsch, sei eine "Auflösung derartiger Personenansammlungen" nicht mehr möglich. Er forderte in seinem Bericht, die Friedensgebete zu verbieten. Auch der Kirchenvorstand von St. Nikolai wurde aktiv: "Wir bitten darum, auf eine derartige Machtdemonstration staatlicher Organe zu verzichten", heißt es in einem Brief an die SED-Bezirksleitung.

Die Leipziger Volkszeitung, damals Organ der SED-Bezirkssleitung, konnte die Geschehnisse nicht mehr ignorieren. Unter der Überschrift "Ordnung gestört" berichtete sie am 26. September 1989 auf der letzten Seite, dass es "im Leipziger Stadtzentrum zu nicht genehmigten und ungesetzlichen Zusammenrottungen" kam, die die "öffentliche Ordnung störten" und den "Verkehr zeitweise beeinträchtigten". Den Sicherheitskräften wurde "besonnenes Verhalten" bescheinigt.

Von Mathias Orbeck,
erschienen in der Leipziger Volkszeitung am 25. September 2009

Sprechchöre: "Wir bleiben hier!"

Nach der ersten großen Montagsdemo am 25. September, als mehr als 5000 Menschen erstmals vom Karl-Marx-Platz über den Georgiring bis zum Friedrich-Engels-Platz gezogen waren, lagen bei vielen Funktionären des SED-Machtapparates die Nerven blank. Hektisch wurden Maßnahmen ergriffen, um vom Westen gesteuerte "antisozialistische Aktivitäten in der Stadt Leipzig" zurückzudrängen. So legte die SED-Bezirksleitung am 29. September ein streng geheimes Argumentationspapier vor. "Leipzigs Innenstadt wird zum antisozialistischen Wallfahrtsort hochgejubelt, um öffentliche Ordnung und Sicherheit zu belasten und das normale Leben der Bürger empfindlich zu stören", heißt es darin.

Dabei wird die Opposition als "seit längerem hochgepäppelte Personengruppe" beschrieben. Einige solcher Leute würden "Morgenluft wittern" und "wie Ratten aus ihren Löchern" kriechen. Westmedien hingegen lügen "das Blaue vom Himmel, indem sie diese Kräfte zu Freiheitsaposteln hochjubeln". Eine unheilvolle Rolle bei der "Aufwiegelung und Verhetzung zu antisozialistischen Handlungen" spielten auch "Leute, die das Kleid der Kirche tragen." Aufgerufen wird dazu, diesen Umtrieben "mit allen Mitteln, politisch verantwortungsbewusst und aktiv" entgegenzutreten. Interessant ist auch: In keiner Weise, hieß es, dürfe diese Information vervielfältigt oder weitergegeben werden.

Auch in der LVZ, damals Bezirksorgan der SED, wurde mit Leserbriefen reagiert. Unter dem Titel "Wir wollen weiter in Ruhe und Geborgenheit leben" äußerten sich am 29. September 1989 Leipziger Bürger und eine Kampfgruppeneinheit zur "antisozialistischen Hetzkampagne".

Trotzdem kam es am 2. Oktober erneut zur Demonstration - zum damals größten Protest in der DDR seit dem Volksaufstand 1953. Der Platz vor der Nikolaikirche war wie an den Montagen zuvor von Volkspolizei und Stasi abgeriegelt. Das Gotteshaus, in dem sich schon vor Beginn des Friedensgebetes etwa 2500 Menschen versammelt hatten, musste wieder wegen Überfüllung geschlossen werden. Das führte auch dazu, dass ein Teil der bestellten "gesellschaftlichen Kräfte", wie es in einem chiffrierten Fernschreiben an SED-Generalsekretär Erich Honecker hieß, nicht mehr ins Kircheninnere gelangte. Auch in der Reformierten Kirche gab es am 2. Oktober ein Friedensgebet.

Mehr als 20 000 Menschen zogen an diesem Tag über den Ring, in anderen Quellen ist von bis zu 25 000 die Rede. "Man muss von einer sehr großen Spontanität ausgehen, denn die Demonstration ist ja von niemandem organisiert worden", sagte Pfarrer Christoph Wonneberger in einem am Folgetag veröffentlichtem Interview. In Sprechchören forderten die Menschen demokratische Reformen. "Erich, laß die Faxen sein, hol die Perestrojka rein!" hieß es beispielsweise. Auch "Gorbi, Gorbi"-Rufe erklangen sowie die Rufe "Neues Forum zulassen!". Viele Menschen unterstrichen ihren Willen, innerhalb des Landes für mehr Demokratie sorgen zu wollen. "Wir bleiben hier", war nun in den Sprechchören immer häufiger zu hören.

Der Demonstrationszug blieb zunächst unbehelligt, führte über den Ring am Hauptbahnhof vorbei bis zum damaligen Friedrich-Engels-Platz. Dort wurde er durch eine Straßenblockade von Polizeilastwagen gestoppt. Einige jugendliche Demonstranten durchbrachen die Polizeikette. So zogen an der "Runden Ecke " vorbei, wo Rufe wie "Stasi raus" und "Inhaftierte freilassen" erklangen, bis zum Markt.

Nach anfänglicher Zurückhaltung setzte die Polizei Schlagstöcke und Elektrostäbe ein. Auch die Kampftruppen der Arbeiterklasse, bewaffnete Trupps aus Großbetrieben, waren aufmarschiert. Die LVZ berichtete erneut von einer "ungesetzlichen Zusammenrottung größerer Personengruppen, die die öffentliche Sicherheit und den Straßenverkehr der Innenstadt beeinträchtigten". An jenem Tag wurden 20 Männer verhaftet, die meisten kamen nach einer Verwarnung am Abend wieder auf freien Fuß. Gegen andere wurden Ordnungsstrafverfahren eingeleitet.

"Es müssen Entscheidungen getroffen werden, ob dieser Gottesdienst weiter durchgeführt wird, der mit einem Gottesdienst nichts mehr zu tun hat", schrieb Helmuth Hackenberg, der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung, an Honecker. Jene Zusammenrottungen würden sich immer mehr als Sammelbecken "antisozialistischer und rowdyhafter Elemente erweisen".

Von Mathias Orbeck,
erschienen in der Leipziger Volkszeitung am 29. September 2009

Polizei setzt Wasserwerfer ein

Im Volk brodelte es längst: Dennoch feierte die Partei- und Staatsführung in Berlin den 40. Jahrestag der DDR. Bereits am Abend vorher waren 100.000 Jugendliche an SED-Generalsekretär Erich Honecker und den Ehrengästen vorbeimarschiert. Auch eine Militärparade gab es. In Leipzig herrschte am Republikgeburtstag höchste Sicherheitsstufe. Selbst die Kampfgruppen saßen in Hausbereitschaft. Ein Friedensgebet stand an jenem Tag aber nicht an - der 7. Oktober war ein Sonnabend. Auf dem Marktplatz herrschte fröhliches Treiben - bei den alljährlichen Markttagen.

Die Nikolaikirche war mit Blumen und Kerzen geschmückt. Auf dem Platz davor sichtete die Volkspolizei gegen 10 Uhr die ersten Menschengruppen, die sich friedlich trafen. Über Lautsprecher wurden die Leute aufgefordert, den Platz zu verlassen. Bereits eine halbe Stunde später wurde das Areal vorm Gotteshaus das erste Mal geräumt. Stasi-Generalleutnant Manfred Hummitzsch hatte im Vorfeld angewiesen: "Feindlich negative Aktivitäten sind mit allen Mitteln entschlossen zu unterbinden."

Um 11.40 Uhr marschierte die erste Kompanie VP-Bereitschaft mit Sonderausrüstung auf. Sämtliche Personengruppen wurden - wie bei einem Katz- und-Maus-Spiel - rasch aufgelöst. Den ganzen Tag lag Spannung in der Luft, es regnete. Niemand wusste, was passieren würde. Gegen 13.30 Uhr waren wieder 300 Personen auf dem Nikolaikirchhof gesichtet worden. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Sicherheitsleute bereits 20 Personen zugeführt, wie es damals hieß. Auf dem Agra-Gelände in Markkleeberg richtete die Staatssicherheit einen so genannten Zuführungspunkt ein, wohin die Verhafteten nach ersten Befragungen mit Lastkraftwagen gekarrt worden waren. Der Polizeieinsatz verlief brutal, wie Beteiligte später berichteten. Die Polizei marschierte in voller Montur mit Helm und Schlagstöcken auf. Sie hatte auch Hunde mit und ohne Beißkorb dabei.

Die Polizei bildete Sperrketten. Gegen 17 Uhr wurde für das 1. Kampfgruppenbataillon Alarm ausgelöst. Am Abend ließ die Polizei erstmals Wasserwerfer auf dem Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) auffahren, die auch zum Einsatz kamen. Spontan kam es wieder zu einer Demo über den Ring, die in Höhe der Hauptfeuerwache gestoppt worden war.

Obwohl die Kirchen geschlossen waren, demonstrierten am 7. Oktober 1989 allein in Leipzig mehr als 5000 Menschen. 179 Männer und 31 Frauen wurden an jenem Tag verhaftet. Dabei waren auch 82 Menschen, die nicht in Leipzig wohnten.

"Sie wurden unter unwürdigen Bedingungen in den Pferdeställen auf der Agra zusammengepfercht", so Tobias Hollitzer, der das Museum in der Runden Ecke leitet. Betroffene berichteten später, wie die Männer von den Lastkraftwagen heruntergezerrt wurden. Einer nach dem anderen wurde an die Wand gestellt, die Beine auseinandergeknüppelt. Schließlich kamen sie zu zehnt und mehr in diese Pferdeboxen hinein. Einige mussten dort mehr als 24 Stunden verbringen.

Die LVZ, damals SED-Bezirksorgan, vermeldete am folgenden Montag, dem 9. Oktober, unter der Überschrift "Rowdys beeinträchtigen ein normales Leben", dass die Deutsche Volkspolizei durch besonnene Handlungen größere Ausschreitungen und einen geordneten Ablauf der Markttage gewährleistet habe.

Von Mathias Orbeck,
erschienen in der Leipziger Volkszeitung am 7. Oktober 2009

Der Tag der Entscheidung

Der 9. Oktober 1989 ist der Tag der Entscheidung. Seit den frühen Morgenstunden hängen Bettlaken an der Nikolaikirche. "Leute, keine sinnlose Gewalt, reißt euch zusammen", ist darauf zu lesen. Bürgerrechtsgruppen um Pfarrer Christoph Wonneberger haben einen Appell verfasst, der 25.000 mal mühsam vervielfältigt und später verteilt wurde. Darin wird zum Verzicht auf Gewalt aufgerufen.

Nikolaikirchenpfarrer Christian Führer ist bewusst, dass an diesem Montag trotz aller staatlichen Drohungen mit einem großen Ansturm zum Friedensgebet zu rechnen ist. Auch Drohungen per Telefon gibt es. An Schulen und in Betrieben sind offiziell Warnungen ausgesprochen worden, auf keinen Fall in die Innenstadt zu gehen, weil dies gefährlich werden könnte. Gerüchte kursieren, dass Krankenhäuser bereits Blutkonserven bereitstellen müssen.

Auch bei den Mitarbeitern staatlicher Organe liegen die Nerven blank. Nach vorherigen Demonstrationen, etwa am 7. Oktober 1989, will die Staatsmacht in Leipzig den "Spuk ein für alle Mal beenden". "Auch mit dem Einsatz von Schusswaffen wird offen gedroht", so Tobias Hollitzer, Chef des Museums in der Runden Ecke.

Die Bezirkseinsatzleitung der SED stellt am frühen Morgen fest, dass Demonstrationen nicht mehr zu verhindern sind. Um "mögliche Provokationen im Keim zu ersticken", werden 3000 bewaffnete sowie 5000 so genannte gesellschaftliche Kräfte mobilisiert. SED-Mitglieder erhalten den Auftrag, sich zum Friedensgebet in der Nikolaikirche zu versammeln, die nach 14 Uhr voll besetzt ist. Christian Führer begrüßt die Genossen: "Ich freue mich, dass Sie da sind, ich wundere mich nur, dass Sie so zeitig gekommen sind, denn das arbeitende Proletariat hat erst nach 16 Uhr Zeit."

Kurz vor 16 Uhr versammeln sich vor der bereits überfüllten Nikolaikirche mehrere hundert Menschen, die nicht mehr eingelassen werden. In der ganzen Stadt ist Polizei mit Hunden präsent, auch Lastkraftwagen mit Gittern stehen bereit. Geschäfte und Restaurants in der City sind geschlossen. Um 17 Uhr beginnt dann das Friedensgebet, das von Pfarrer Weidel und der Arbeitsgruppe Frieden aus Gohlis gestaltet wurde. Gottesdienste finden zeitgleich auch in der Reformierten Kirche, der Michaeliskirche sowie in der Thomaskirche statt, die ebenfalls überfüllt sind.

Ab 17.30 Uhr wird im Leipziger Stadtfunk der Aufruf der Leipziger Sechs verlesen: Kurt Masur, Bernd-Lutz Lange, Peter Zimmermann, die SED-Sekretäre Roland Wötzel, Jochen Pommert und Kurt Meyer hat die gemeinsame Sorge zusammengeführt. "Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen eine gemeinsame Lösung", heißt es darin. Sie bitten um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird. Der Aufruf wird vom Uni-Theologen Peter Zimmermann auch beim Friedensgebet in der Nikolaikirche übergeben. Als später etwa 2000 Menschen die Kirche verlassen, treffen sie draußen auf Zehntausende. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung.

So kommt es zur bislang größten Massendemonstration mit mehr als 70 000 Menschen, die vom Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) über den Ring ziehen. Rufe wie "Gorbi, Gorbi" und vor allem "Wir sind das Volk" werden laut. Es wird aber auch gefordert, das Neue Forum zuzulassen. Beteiligt waren nicht nur Einwohner Leipzigs. Tausende waren aus der ganzen DDR angereist. Die Angst, ob es zu einer "chinesischen Lösung" kommt, sitzt tief. Neben der Polizei ist auch die bewaffnete Kampfgruppe aufmarschiert. Die Menschen rücken mit Kerzen zusammen. Ein Ruf eint sie: "Keine Gewalt".

Gegen 18.30 Uhr ruft Helmut Hackenberg, der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung, bei Egon Krenz an. Er erwartet eine Entscheidung "von oben". "Egon Krenz hat das erste Mal was richtig gemacht. Denn er hat nichts gemacht", sagt Pfarrer Führer heute.

Gegen 19.25 Uhr wird es noch einmal besonders brenzlig. Der Demonstrationszug erreicht die Runde Ecke, den Sitz der Stasi-Bezirksverwaltung. Die Polizei, die vor dem Gebäude postiert worden war, lässt den Zug passieren. Doch die Unsicherheit, dass es zu Provokationen kommt, die die Situation eskalieren lassen, ist auf beiden Seiten groß. Jubel macht sich unter den Demonstranten breit, als die Bezirksbehörde der Stasi passiert wird, ohne dass es zu Zwischenfällen oder Ausschreitungen kommt. "Wir sind das Volk!" wird erneut zur Losung des Tages. "Wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete" soll Stasi-Chef Mielke später gesagt haben.

Gegen halb neun löst sich der Demonstrationszug auf. Im Westfernsehen laufen später die ersten Filmberichte über den Tag der Entscheidung in Leipzig. Angesichts der Massen auf dem Ring ziehen sich die Sicherheitskräfte zurück. An diesem Tag muss die schwer bewaffnete Diktatur vor dem Mut und dem Veränderungswillen Zehntausender gewaltlos kapitulieren. Die DDR hat sich verändert. Der Anfang vom Ende ist eingeläutet.

Von Mathias Orbeck,
erschienen in der Leipziger Volkszeitung am 9. Oktober 2009

Apps zum Herbst '89

App "ZEITFENSTER. Friedliche Revolution Leipzig"

Zeitmaschine im Hosentaschenformat - ZEITFENSTER ist eine Augmented Reality App, die an 25 Standorten in Leipzig eine Zeitreise zur Friedlichen Revolution ermöglicht. Zudem ist ein "Schatz" von ca. 300 Originaldokumenten, Videos, O-Tönen und Audioguides verfügbar.

App "ZEITFENSTER. Friedliche Revolution Leipzig"
Weitere Informationen und Download

App "Leipzig '89"

"Leipzig '89" ist eine mehrsprachige Hörführung (Audioguide), die zu 20 Stelenstandorten im Leipziger Stadtraum führt, an denen bedeutende Aktionen stattfanden, die zum Sturz der SED-Diktatur beitrugen.

App "Leipzig '89" Weitere Informationen und Download

App "mdr Zeitreise"

Leipzig hat sich seit der Friedlichen Revolution 1989 radikal verändert. Wählen Sie verschiedene Punkte im Stadtgebiet aus oder lassen Sie sich von einer prominenten Persönlichkeit durch die Stadt führen.

App "mdr Zeitreise" Weitere Informationen und Download

Weblinks